Ein erster Leserbrief – Anmerkungen zum Titel „Freie Schule“

Lieber MM,

seit Du mir von Deinem neuen Projekt erzählt hast, fallen mir ständig Fragen zur Schule ein, die dringend mal wieder ins Gespräch gebracht werden müssten. Und da ich zwischen Kühemelken und Kartoffelnlegen nicht die Muße finde, eines der Themen rechtzeitig zum Start Deiner Zeitschrift gründlich zu bearbeiten, schreibe ich Dir einen Brief – den ersten Leserbrief. Doch, die Bezeichnung ist richtig, denn es wird vor allem ein Kommentar zu dem Titel Deiner Zeitschrift, den Du mir ja schon zu lesen gabst: „Freie Schule“ – Programm und Ideal zugleich! 

Zunächst einmal erinnerte ich mich an die Information, die in der Waldorfszene gestreut wurde, als Du vor 33 Jahren als Redakteur bei der „Erziehungskunst“ anfingst: „Der hat sich gründlich mit Fragen der Finanzierung von Schule beschäftigt, speziell mit dem Bildungsgutschein.“ Geld ist eben nicht „neutral“. Wie muss die Bildung, die Kultur finanziert werden, damit Freiheit ermöglicht wird und nicht doch in Wirklichkeit Einfluss genommen werden soll? Denn wie man so schön sagt: „Der Teufel steckt im Detail“. Es würde sich lohnen, das Thema mal wieder anzugehen, denn neben der großen grundsätzlichen Perspektive, die mit dem „Bildungsgutschein“ avisiert ist, gibt es ja auch bei der Finanzierung der Freien Schulen und der Freien Hochschulen die Frage: Sind es wirklich freie Freie Schulen bzw. freie Freie Hochschulen?[1]

Womit wir bereits beim Ideal Freiheit angelangt sind.

Du kennst sicher den schönen Aphorismus von Carl Schurz (1829 -1906): „Ideale sind wie Sterne, man kann sie nicht erreichen, aber man kann sich an ihnen orientieren.“, in dem ja sehr prägnant gefasst ist, was für uns auch die  Idee der Freiheit sein kann: ein Ideal. Und die alte Volksweisheit, dass jeder Mensch seinen Stern hat, macht uns darauf aufmerksam, wie individuell und verschieden die Möglichkeiten der Verwirklichung der Freiheit sind.

Im letzten Winter kam ich endlich dazu „Das Handwerk der Freiheit“ von  Peter Bieri[2] zu lesen. Zum Glück hatte ich Zeit, sodass ich mich dann doch auf seine recht verschlungenen Wege einlassen konnte. Und so verstand ich immer besser, warum er das Bemühen, sich selbst – auch begrifflich – der Freiheit, der „Selbstbestimmungsfähigkeit und – möglichkeit“ zu nähern, mit dem Handwerk vergleicht: Man muss es üben, es ist anstrengend, aber schrittweise bekommt das „Arbeitsergebnis“ sogar eine Gestalt, ja es geht m.E. sogar um Schönheit … aber man nähert sich dem Ideal eben nur „asymptotisch“.  Wie neulich, als ich mir für meine Axt einen neuen Stiel geschnitzt habe … so richtig optimal liegt er immer noch nicht in meiner Hand.

Nun muss ich aufpassen, dass der Brief nicht zu lang und zu persönlich wird – und so werden manche Themen nur anklingen – einige kannst Du ja mal auf Deine To-do-Liste setzen.

Vor etwa 50 Jahren begegnete ich während meines Studiums Ivan Illich (1926-2002), der damals kurz nacheinander seine beiden grundlegenden Schriften über die „Entschulung der Gesellschaft“[3] veröffentlichte. Während Frans Carlgren und Arne Klingborg fast gleichzeitig mit ihrem Werk die Hoffnung vermitteln, dass trotz widriger Umstände eine „Erziehung zur Freiheit“[4] möglich ist, folgte für mich aus den Überlegungen von Illich die bittere Wahrheit, dass es ohne sehr grundlegende Veränderungen – zumal in Deutschland – keine freien Schulen geben kann: Am Eingang die Schulpflichtmit der Androhung der zwangsweisen Zuführung der Kinder und am Ausgang das Berechtigungswesen mit seiner selektierenden Prüfung der jungen Menschen: das ist ein Korsett, das dazu führt, dass die Institution Schule gekennzeichnet ist durch strukturelle Gewalt. Man kann sich an sie gewöhnen, man kann versuchen, sie zu ignorieren, aber sie ist präsent bis in den letzten Winkel des Schullebens. Die Schule als „gesellschaftliche Einrichtung“ verstößt durch die ihr inhärente Diskriminierung sowohl gegen die Würde der Kinder als auch gegen die der Lehrerinnen und Lehrer.[5]

Die Quelle der Kraft für den Lernwillen, mit dem jeder Mensch geboren wird, ist ja die Begegnung mit der Welt, die Begegnung mit dem anderen Menschen und mit den Dingen. Diese Quelle muss versiegen, wenn keine Resonanz entsteht und dies geschieht nur in einer Atmosphäre der Freiheit. Der Begriff der Resonanz, der vor allem dank Hartmut Rosa[6]auch in die Pädagogik Einzug gehalten hat, ist ja als Metapher so ergiebig, weil schon das Stimmen eines Instrumentes wunderbar ins Bild bringt, was geschieht, wenn Resonanz entsteht: Wer einmal zwei Monochorde mit Hilfe des Mitschwingens der jeweils anderen Saite gestimmt hat, und gehört hat, wie schrill, fast schmerzhaft Schwebungen sein können, weiß, wie sensibel der Vorgang ist, in Resonanz zu kommen und wie das auch „daneben“ gehen kann. Und es funktioniert eben nur, wenn beide Saiten frei schwingen können. Kinder kommen „von selbst“ und völlig unbewusst in Resonanz mit ihrer Umgebung. Dem verhärteten Erwachsenen gelingt das viel schwerer, er muss und kann das jedoch üben.[7] Äußere Vorgaben wie Stunden – und Lehrpläne, Versetzungsreglement oder gar (zentrale) Prüfungen sind jedoch sicher für alle Beteiligten erschwerende Bedingungen.

Das erkennen immer mehr Eltern und Lehrer und so wächst die Zahl der Schulen in freier Trägerschaft. 

Doch auch die Schülerinnen und Schüler der hyggeligsten Waldschule sind eben doch nicht wirklich freiwillig in der freien Natur und auch sie werden irgendwann an der Sortieranlage „Staatliche Abschlüsse“ ankommen und da hindurch wollen und müssen. Und das hat Rückwirkungen: In der einen Klasse ist es ein waches Mädchen, was endlich auch das lernen will, was die Freundin auf der staatlichen Schule lernt, in der anderen ist es ein Vater, der auf dem Elternabend fragt, ob nicht die „Kommazahlen“ doch langsam dran sein müssten … Sie machen uns darauf aufmerksam, dass die „gesellschaftlichen Erwartungen“ nicht abzuschirmen sind. Zudem wollen wir, die Erwachsenen, ja selbst die Kinder irgendwann in die Welt und d.h. eben auch in die bestehende Gesellschaft entlassen und wir wollen helfen, dass sie dann alle möglichst gut vorbereitet sind. Das ist eine dankbare, schöne Aufgabe – wie Du weißt, bin ich gerne Lehrer gewesen. Aber die Erkenntnis, dass wir eigentlich aus den „bestehenden Verhältnissen“ immer nur das Beste machen, kann und sollte uns davor bewahren, nicht zu viele und vor allem keine unnötigen Kompromisse zu machen.[8] Auch kann sie uns daran erinnern, dass wenn nicht gleich die Schule so doch zumindest die Schulpflicht und das Berechtigungswesen abgeschafft werden müssten. Etwas böse formuliert ist der Versuch, auf einem schönen Grundstück eine freie Schule zu machen, ein Laborieren an Symptomen und das stabilisiert eben letztlich ein menschenunwürdiges System: 

Ich habe die Hoffnung, dass durch Deine Initiative einerseits ein Marktplatz der Ideen entsteht, wie wir Kindern und Jugendlichen als LernbegleiterInnen immer besser helfen können, ihren eigenen Willen nicht nur zu entdecken (Bieri) sondern zu stärken und andererseits die Menschen zusammengeführt werden, die für die Abschaffung der Schulpflicht und des Berechtigungswesens auf politischer Ebene kämpfen wollen.

Verbunden mit einem Herzlichen Gruß wünsche ich einen guten Start!

Dein MvS

(Dr. Markus v. Schwanenflügel)

Naatsaku (Estland) im Mai 2022


[1] Welche Kompromisse müssen z.B. beim Curriculum, bei Personalentscheidungen, bei den Gebäuden etc. gemacht werden, um eine Genehmigung zu bekommen und die Finanzierung zu sichern und wie transparent sind für die Beteiligten aber auch für die Öffentlichkeit die Verfahren.

[2] Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. Frankfurt/Main 2003.

[3] Ivan Illich: Deschooling Society (Entschulung der Gesellschaft) New York 1971  und  Schulen helfen nicht. Über das mythenbildende Ritual der Industriegesellschaft. Reinbek, 1972. 

[4] Frans Carlgren, Arne Klingborg: Erziehung zur Freiheit. Die Pädagogik Rudolf Steiners. Stuttgart 1972.

[5] Für die Schulpflicht hat Philip Kovce in seinem Beitrag „Schafft die Schulpflicht ab. Eine Provokation“ das kürzlich noch einmal dargestellt.https://www.swr.de/swr2/wissen/schafft-die-schulpflicht-ab-warum-der-zwang-zum-schulbesuch-unwuerdig-ist-104.html

[6] Z.B.: Hartmut Rosa, Wolfgang Endres: Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert. Weinheim/Basel 

[7] Das wäre ein Thema für die LehrerInnen – Ausbildung.

[8] Ich möchte an dieser Stelle doch noch drei Bereiche nennen, die für vorschnelle Kompromisse m.E. sehr anfällig sind: 

  1. Welche „pädagogischen Mittel“ zur Steigerung der Lernmotivation bzw. zur Disziplinierung wollen wir uns erlauben? Auf die Fragwürdigkeit von Sitzenbleiben und Zensuren braucht wahrscheinlich nicht noch einmal eingegangen zu werden – aber wie ist es mit dem oftmals propagierten „Belohnungssystem“? Wann wird z.B. aus der Anerkennung einer Leistung ein Lob als Leckerli zur „operanten Konditionierung“?
  2. Was sind die Kriterien für das, was und wie wir es mit den Kindern und Jugendlichen in der Schule tun? Versuchen wir uns daran zu orientieren, was für ihre Entwicklung förderlich ist oder an dem, was „die Gesellschaft“ braucht und was eben von außen über die Inhalte der Abschlüsse vorgegeben ist?
  3. Ende der 1960er Jahre wurde (unter der nicht ganz korrekten Übersetzung von hidden curriculum) der „heimliche Lehrplan“- der Transfer von Normen und Werten neben dem offiziellen Lehrplan an die jeweils nächste Generation – reflektiert. Nicht nur die Schule als Institution auch jede Lehrerin und jeder Lehrer hat einen solchen verborgenen Lehrplan „bei sich“. Was können wir tun, damit dieser nicht unzulässig eine „Erziehung zur Freiheit“ verhindert?   

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