Vergessene Argumente für das Grundrecht auf Freiheit im Bildungswesen

Es ist erstaunlich, wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, die anhaltende Verfestigung des Staatsschulmonopols für unverzichtbar, für harmlos oder sogar für sachgemäß zu halten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland durch eine grundlegende Verfassungsreform eine Neuordnung aller gesellschaftlichen Verhältnisse eingeleitet. Das neue Grundgesetz befreite das Wirtschafsleben von staatlichen Zwängen, gab Raum frei für unternehmerische Initiativen und ermöglichte dadurch einen überraschend erfolgreichen Wiederaufbau, und es sicherte Im Bereich des Rechtslebens zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands die Grundrechte. Für das Schul- und Bildungswesen hingegen gab es solche Freiheiten nicht. Die nach dem Zusammenbruch von 1945 allgemein akzeptierte Notwendigkeit, ein irregeleitetes Volk von Grund auf neu zu erziehen und mit den Idealen aufgeklärter Demokratie bekannt zu machen, schien ein freies Geistesleben für Lehrer und Kinder, jedenfalls zunächst, nicht zuzulassen. So blieb das zentralistische System staatlicher Schulverwaltung, das sich seit der Bismarck-Zeit in Deutschland etabliert und während der nationalsozialistischen ebenso wie in der bolschewistischen Diktatur der Ostblockstaaten als systemkonform erwiesen hatte, weiter bestehen.

Glücklicherweise gestand das Grundgesetz den Schulen in freier Trägerschaft eine Existenznische zu. Nach Artikel 7. 4 sind sie zu genehmigen, wenn sie „ in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen“. Aber zugleich wurden diese Schulen mit wirksamen Reizworten von vornherein diskriminiert. Sie waren „privat“ und nur ein „Ersatz“ für die „öffentlichen“ Einrichtungen des Regelsystems.

[Kasten mit Artikel 7.4?]

Die hieran gebundenen Landesgesetze und Verwaltungsvorschriften haben dieses klimabildende Vokabular bis heute beibehalten. Zwar konnten die Schulen in freier Trägerschaft ihre bescheidenen Freiräume seither in einem anhaltenden juristischen Kleinkrieg erweitern und sichern. Umfassende Freiheit für das Bildungswesen haben sie damit aber nicht erreicht. Damit ist völlig in Vergessenheit geraten‚ dass die gegenwärtig immer noch anhaltende Verfestigung des Staatsschulmonopols eine vorübergehende historische Erscheinung und keineswegs selbstverständlich oder gottgewollt oder gar notwendig ist.

Noch zur Goethezeit, als das staatliche Prüfungswesen zunächst in sehr lockerer Form zum ersten Mal institutionalisiert und – damals aus guten Gründen – zentrale Schulverwaltungen eingerichtet wurden, war eine lebhafte Diskussion darüber im Gang, wo die Grenzen der staatlichen Schulaufsicht oder Schulverwaltung zu liegen hätten. Führende Denker wie W. v. Humboldt und sein Mitarbeiter J. W. Süwern, Herbart, Schleiermacher, der viel zu wenig bekannte Karl Mager, später vor allem F. W. Dörpfeld, traten für weitgehende Selbstverwaltung und lokale Autonomie im Bildungswesen ein und wollten die Zentralorgane des Staates auf vorübergehende subsidiäre Notmaßnahmen beschränkt sehen. «Freiheit des Lehrers, Lehrfreiheit, Selbstständigkeit von Schule und Lehrer, kollegiale Schulleitung, Verselbstständigung der Schule nach dem Vorbild der Rechtspflege, begrenzte Zuständigkeit des Staates in Fragen innerer Schulangelegenheit sind Gesichtspunkte, die immer wiederauftauchen.»[1] Unvergleichlich mehr Zutrauen in die Initiativkraft und Verantwortungsfähigkeit der einzelnen Bürger und ihrer nach örtlichen Bedingungen differenzierten Gemeinschaftseinrichtungen war damals gegeben als heute.

Und auch noch nach den beiden Weltkriegen gab es produktive Debatten. Das Staatsmonopol im Bildungsleben wurde angezweifelt. Man begann zu sehen, wie stark das gegenwärtige System staatlicher Schulverwaltung von den Denkformen des Absolutismus und den daraus hervorgegangenen sozialtechnischen Gewohnheiten bestimmt ist und wie es damit den Prinzipien eines freiheitlichen Rechtsstaates gerade da widerstreitet, wo es sich aufgeklärt-pragmatisch versteht und aufführt.[2] Eine Untersuchung über das akademische Ausbildungswesen in seinem Verhältnis zur Laufbahnordnung im öffentlichen Dienst kam zu der entschiedenen Forderung einer «Entflechtung von universitärer Bildung und höherem öffentlichem Dienst als automatischem, privilegierendem Berechtigungsverbund».[3] Lehrfreiheit für jeden Lehrer, wie sie nach allgemeiner Rechtsauffassung noch bis zur Münchener Staatsrechtslehrertagung von 1927 bestand, wurde wieder neu gefordert. Der erste umfassende Versuch, das Recht Freier Schulen von der Verfassung statt von der Verwaltungstradition her zu begründen,[4] erbrachte das weit über den engeren Kreis des Privatschulwesens hinaus interessante Nebenergebnis einer genaueren Eingrenzung der Eingriffsrechte staatlicher Verwaltung im Schulwesen überhaupt. Damit wurden Vorschläge für die Förderung von Selbstverantwortung und mehr persönlicher Teilhabe der Lehrer, Eltern und Schüler im öffentlichen Schulwesen, wie sie  der Deutsche Bildungsrat und der Deutsche Juristentag vorgelegt haben,[5]entschieden unterstützt.

Das Recht der Freien Schulen entwickelte sich durch die besonderen, oft so auffallend absurden Zwänge, gegen die es sich durchsetzen musste, zum Diskussionsfeld einer neuen Liberalität im Bildungswesen. So kam Johann Peter Vogel in seiner Untersuchung über Verfassungswille und Verwaltungswirklichkeit im Privatschulrecht zu dem Ergebnis: «Das Schulwesen, durch 150 Jahre deutscher Geschichte staatlich bestimmte und im Wesentlichen mit der Gesellschaft im Einverständnis befindliche geschlossene Anstalt, befindet sich heute in einer Krise, die ihre Wurzel in einer Organisationsform hat, die sich trotz gesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen Wandels kaum geändert hat. Das von den gesellschaftlichen Bedürfnissen, pädagogischen Ideen und ökonomischen Zwängen viel abhängigere, aber auch flexiblere Schulwesen in freier Trägerschaft und sein verfassungsrechtlicher Ansatz der Vielfalt in Gleichwertigkeit lässt das Privatschulrecht zu einem Pilotrecht für das allgemeine Schulrecht werden.»[6]Sehr wahrscheinlich ist die erstaunlich lebhafte Debatte über Autonomiefragen im öffentlichen Schulwesen, die sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts vorübergehend entwickelt hat,[7]von all dem mit vorbereitet und beträchtlich gefördert worden. Über all das ist heute noch einmal gründlich nachzudenken.

(Bei diesem Text handelt es sich um das einleitende Kapitel der aktualisierten Neuauflage des Buches von Johannes Kiersch: Die Waldorfpädagogik. Eine Einführung in die Pädagogik Rudolf Steiners. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, in Vorbereitung für 2022.)


[1]Andreas Laaser: Wissenschaftliche Lehrfreiheit in der Schule. Geschichte und Bedeutungswandel eines Grundrechts. Königstein 1981, S. 174.

[2]Peter Vogel: Kritik der Staatspädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 1983, S. 607ff.

[3]Raban Graf von Westfalen: Akademisches Privileg und demokratischer Staat. Stuttgart 1979, S. 168.

[4]Friedrich Müller: Das Recht der Freien Schule nach dem Grundgesetz. 2. Aufl. Berlin 1982.

[5]Deutscher Bildungsrat: Zur Reform von Organisation und Verwaltung im Bildungswesen. Teil I. Verstärkte Selbstständigkeit der Schule und Partizipation der Lehrer, Schüler und Eltern. 1973. Deutscher Juristentag: Schule im Rechtsstaat. Bd. I. Entwurf für ein Landesschulgesetz. München 1981.

[6]In: Recht der Jugend und des Bildungswesens (RdJB) 1983, Heft 3, S. 182. Vgl. auch Frank Rüdiger Jach: Schulvielfalt als Verfassungsgebot. Berlin 1991.

[7]Vgl. John E. Chubb / Terry M. Moe: Good Schools by Choice. A New Strategy for Educational Reform. Freie Schulen sind bessere Schulen. Erfahrungen und Reformvorschläge aus den USA. Schriftenreihe des European Forum for Freedom in Education. Frankfurt a. M. 1993.; Horst Hensel: Die autonome öffentliche Schule. München 1995; Hans Badertscher / Hans-Ulrich Grunder (Hrsg.): Wie viel Staat braucht die Schule? Schulvielfalt und Autonomie im Bildungswesen. Stuttgart / Wien 1995.


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